BUCHT-TIP – aus Georg Herbstritt Alles rechtens bei der Stasi? Die Strafverfahren bundesdeutscher Gerichte gegen MfS-Mitarbeiter

Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) hat entscheidend dazu beigetragen, dass vielen DDR-Bürgern grundlegende Menschen- und Bürgerrechte vorenthalten blieben, und MfS-Mitarbeiter haben sich in großem Umfang strafbarer Methoden bedient. Das ist weitgehend unstrittig. Doch als die MfS-Straftaten in den neunziger Jahren endlich juristisch geahndet werden konnten, war die Enttäuschung am Ende groß: Gerade einmal 251 Personen wurden wegen Straftaten angeklagt, die sie im Auftrag des MfS begangen hatten; unter ihnen 182 hauptamtliche und 42 inoffizielle MfS-Mitarbeiter. Zwei Drittel der Strafverfahren endeten entweder mit Freispruch oder ohne ein Urteil, lediglich ein Drittel der Angeklagten wurde verurteilt, wobei die Strafen äußerst milde ausfielen. Nur ein MfS-Offizier sowie zwei inoffizielle Mitarbeiter (IM) mussten eine Haftstrafe antreten; ersterer wegen Beihilfe zum Mord, ein IM wegen dreifachen Mordversuchs, ein anderer IM wegen Beihilfe zum versuchten Mord.
„Die strafrechtliche Aufarbeitung des MfS-Unrechts ist zu großen Teilen erfolglos gewesen“, lautet denn auch das Fazit von Roland Schißau in seinem hier zu besprechenden Buch, und er schreibt weiter: „Das Unternehmen, die Taten des MfS mit den Mitteln des Strafrechts umfassend zu ahnden, hat sich trotz umfangreicher Strafverfolgungsaktivitäten der Ermittlungsbehörden als nicht durchführbar erwiesen.“
Die Enttäuschung hierüber führt immer wieder zu unsachlicher und unfundierter Kritik an den Justizbehörden. Wer sich mit solcher Polemik nicht zufrieden geben will, sondern verstehen und begreifen möchte, warum die Justiz so und nicht anders handelte, dem sei die Arbeit von Schißau nachdrücklich empfohlen. Schißaus Arbeit entstand als Dissertation im Rahmen des groß angelegten Projekts „Strafjustiz und DDR-Unrecht“ bei den Strafrechtsprofessoren Klaus Marxen und Gerhard Werle an der Berliner Humboldt-Universität. Aus dem umfangreichen Themenkomplex der juristischen Aufarbeitung von DDR-Systemkriminalität nahm er die Deliktgruppe „MfS-Unrecht“ in den Blick. Dabei gab es faktisch Überschneidungen mit anderen Deliktgruppen des DDR-Unrechts wie den Misshandlungen in Haftanstalten, der Denunziation oder der Spionage, worauf Schißau deutlich hinweist. So bezieht er auch Anklageschriften aus den Spionagestrafverfahren in seine Untersuchung und seine Statistik mit ein, konkret die Anklagen gegen Günther Kratsch, weil diesem neben der MfS-Hauptabteilung II (Spionageabwehr) auch die Abteilung M (Postkontrolle) unterstand, Horst Männchen, der als Leiter der Hauptabteilung III (Funkaufklärung) auch für Telefonüberwachung verantwortlich war, sowie die früheren Leiter der Hauptabteilung VIII (Ermittlungen), Albert Schubert und Karli Coburger, wegen den von Mitarbeitern ihrer Abteilung begangenen Mordversuche außerhalb der DDR. Unklar bleibt, warum das 1997 ergangene Urteil gegen den langjährigen Leiter der Hauptverwaltung A (HV A) des MfS (Auslandsspionage), Markus Wolf, nicht einbezogen wird. Denn Wolf wurde 1997 unter anderem wegen der unerlaubten Festnahme Georg Angerers im Jahr 1959 verurteilt, und der Fall Angerer wird in Schißaus Buch als ein Beispiel für MfS-Unrecht vorgestellt.
Schißaus Arbeit ist klar strukturiert. Einleitend präsentiert er einige Basisdaten zum MfS, stellt die verschiedenen Justizbehörden vor, die mit der Ahndung von DDR-Unrecht befasst waren und erörtert die allgemeinen rechtlichen Voraussetzungen der Strafverfolgung. Sodann behandelt er kapitelweise die verschiedenen Fallgruppen von MfS-Straftaten: Abhören von Telefongesprächen, Öffnen von Briefsendungen, Entnahme von Geld- und Wertgegenständen aus Postsendungen, heimliches Betreten fremder Räumlichkeiten, Preisgabe von Informationen aus Mandats- und Patientenverhältnissen, Tötungsdelikte, Verschleppungen aus der Bundesrepublik in die DDR, Verrat und Denunziation, Drangsalierungen zur Aussageerzwingung, unerlaubte Festnahmen, Repressalien gegenüber Ausreiseantragstellern sowie sonstige Taten. In jedem Kapitel geht er nach einem einheitlichen Muster vor: Er skizziert zunächst konkrete, historische Fälle, also „Tathandlungen“, beschreibt dann den Verlauf der Strafverfahren, um dann ausGeorg
Herbstritt
Alles rechtens bei der Stasi?
Die Strafverfahren bundesdeutscher Gerichte gegen MfS-Mitarbeiter
Roland Schißau: Strafverfahren wegen MfS-Unrechts. Die Strafprozesse bundesdeutscher Gerichte gegen ehemalige Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (= Berliner Juristische Universitätsschriften, Strafrecht, Bd. 22.)
Berlin: Berliner Wissenschaftsverlag, 2006,
361 Seiten. 44,65 EUR. ISBN 978-3-8305-1140-3.
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orch und Guck 1/2008 | Heft 59
führlich die juristische bzw. strafrechtliche Entscheidungsfindung darzulegen. Dem schließt sich jeweils ein Kommentar des Verfassers an. Verschiedene Statistiken am Ende des Bandes ermöglichen eine schnelle Übersicht über die Strafverfahren; ihr Wert besteht auch darin, dass sie die Daten aus den einzelnen Bundesländern unter einheitlichen Kriterien zusammenführen.
Insgesamt wird das Buch den selbst gesteckten Zielen gerecht: Tatsachengrundlagen zu bieten sowie die Justizaktivitäten in einer für dieses Thema bislang nicht vorgelegten Vollständigkeit offenzulegen und kritisch zu würdigen, um die Leser in die Lage zu versetzen, sich ein eigenes Urteil über diese Fragen zu bilden.
Bemerkenswert ist vor allem die offene und direkte Art, in der der Autor Gerichtsentscheidungen kritisiert und mitunter direkt als „falsch“ bezeichnet und verdeutlicht, welche Entscheidung die bestehende Rechtslage eigentlich erfordert hätte. Mehrfach thematisiert er auch die markanten regionalen Unterschiede bei der Strafverfolgung und richtet an die besonders zurückhaltenden Staatsanwaltschaften in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern die Frage, ob sie nicht das berechtigte Interesse der Opfer an einer gerichtlichen Befassung mit den MfS-Taten vernachlässigten. In vielen Fällen kann er aber auch nur die rechtlichen Probleme erläutern, die einer Strafverfolgung im Wege standen: So konnten verschiedene Delikte wie Öffnen von Briefsendungen oder heimliches Betreten der Wohnung einfach deshalb nicht geahndet werden, weil die Justiz in diesen Fällen nur dann aktiv werden darf, wenn die Opfer innerhalb einer sehr kurzes Frist selbst einen Strafantrag stellen, wozu es aber bis auf eine Ausnahme nicht kam. Andere Delikte wie die Verletzung des Post- und Fernmeldegeheimnisses waren nach DDR-Strafgesetzbuch nur für Postmitarbeiter mit Strafe bedroht. Hinzu kamen überlastete Gerichte und nicht fachkundige Richter, während das Problem der Verjährung faktisch kaum eine Rolle spielte.
Deutlich wird aus all dem, dass die geringe Zahl der Verurteilungen keineswegs einen Freibrief für die ehemaligen MfS-Mitarbeiter darstellt. Den wenigen Urteilen kommt nach Ansicht von Schißau deshalb vor allem symbolische Bedeutung zu, weil sie die auch juristisch begründete Aussage erlauben, dass sich das MfS strafbarer Methoden bediente.
Als Jurist erkennt Schißau den Wert der Strafverfahren auch darin, dass eine gerichtliche Klärung bestimmter Sachverhalte herbeigeführt wurde, was den gesamten Aufarbeitungsprozess voranbrachte, auch wenn es kaum zu Urteilen kam. Beispielsweise war das Oberlandesgericht (OLG) Dresden zu der Entscheidung gelangt, dass MfS-Mitarbeiter keinen „Verbotsirrtum“ für sich beanspruchen könnten; zumal als Hochschulabsolventen seien sie sehr wohl in der Lage gewesen, die Rechtswidrigkeit ihres Handelns zu erkennen, so das OLG Dresden. Schißau bescheinigt der Justiz in seinem Fazit letztlich ein rechtlich einwandfreies Vorgehen ohne politisch motivierten Verfolgungseifer; insbesondere seien keine Sonderstraftatbestände konstruiert worden. Künftige Diskussionen über den Einsatz des Strafrechts könnten nun auf einer fundierten sachlichen Grundlage geführt werden.
Für den juristischen Laien bietet Schißaus Buch die Möglichkeit, juristische Argumentationsgänge zu einem wichtigen zeithistorischen Thema kennenzulernen. Manche Ausführungen sind indes schwer verständlich, weil Schißau die Inhalte der Paragraphen, mit denen er argumentiert, nicht erläutert. Lediglich die einschlägigen Bestimmungen aus der Strafprozessordnung und dem Strafgesetzbuch der DDR druckt er im Anhang ab; dasselbe hätte man sich für die bundesdeutschen Vorschriften gewünscht. Äußerst lückenhaft ist das Sach- und Namensregister am Ende des Bandes ausgefallen. Bedauerlich ist, dass sich das Buch ausschließlich auf juristischem Terrain bewegt und die Möglichkeiten nicht nutzt, die sich aus der Nähe zur Zeitgeschichtsschreibung ergeben. Praktisch wirkt sich das unter anderem dahingehend aus, dass die zeithistorische Literatur zur MfS-Geschichte weitestgehend unberücksichtigt bleibt. Einige Feststellungen über das MfS sowie über zeithistorische Sachverhalte sind deshalb unzutreffend; beispielsweise kann man der Postkontrolle des MfS nicht bescheinigen, dass sie „vornehmlich Aufgaben der Spionageabwehr“ wahrnahm.
Parallel zu Schißaus Dissertation erschien im Rahmen des Projekts „Strafjustiz und DDR-Unrecht“ ein Doppelband mit mehreren einschlägigen Anklageschriften und Gerichtsurteilen. Es wäre wünschenswert, wenn auch die übrigen Anklageschriften und Gerichtsurteile, die im Rahmen des Projekts zusammengetragen wurden, der zeitgeschichtlichen Forschung zur Verfügung gestellt würden. Von einem interdisziplinären Ansatz könnten Juristen und Historiker gleichermaßen
profitieren. GH
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Georg Herbstritt,
geb. l965 in Schluchsee. Historiker,
l994-98 wiss. Mitarbeiter des LStU in Schwerin und seit l999 in der Abt. Bildung und Forschung der BStU. Zuletzt publ.: Bundesbürger im Dienst der DDR-Spionage, Göttingen 2007.